Am 23. Mai 2024 hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland seinen 75. Geburtstag gefeiert. Walter Menzel, Mitglied des Parlamentarischen Rats, und sein Kollege Heinrich von Brentano haben nicht gedacht, dass sie etwas schaffen würden, das Jahrzehnte überdauert. Sie haben in dem verabschiedeten Papier lediglich eine provisorische Ordnung gesehen, die einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung zwar als Vorbild dienen könne, diese jedoch nicht ersetzen soll. Längst hat sich das Provisorium als ein unschätzbarer Wert für die Demokratie erwiesen und ist auch 75 Jahre später noch Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland.
Landauf, landab haben Demokraten das Geburtstagskind gefeiert. Bundespräsident und -kanzler, Regierung und Parlament haben Lobeshymnen gesungen, Bürgermeister haben Sonderdrucke verteilt, um den größten Schatz der Demokratie in das Bewusstsein zu rufen und in gedruckter Form möglichst auch in jeder Schublade zu platzieren.
Aber auf die Hymnen folgten am 9. Juni 2024 die Missklänge. Beim Blick auf die Ergebnisse der Europawahl wird mir Angst und Bange. Europa rückt nach rechts. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihrer rechten Partei Fratelli d’Italia hat überaus erfolgreich abgeschnitten, wie auch die französischen Rechtspopulisten um Marine Le Pen und ihrer „Rassemblement National“. „Unsere“ Rechten haben zwar „nur“ knapp 16 Prozent geholt, sind aber sogar den Rechten in Frankreich und Italien vielleicht nicht zu rechts, aber auf jeden Fall zu plump. Lassen wir Europa vorerst außen vor und blicken zuerst einmal nach Deutschland. Die Karte mit den Ergebnissen (Quelle: Bundeswahlleiter) zeigt eindrucksvoll, dass Deutschland die Teilung offensichtlich noch immer nicht überwunden hat: In den östlichen Bundesländern ist die AfD (bis auf den grünen Fleck in der Mitte) überall stärkste Partei geworden.
Am Rande sei angemerkt, dass Sarah Wagenknechts BSW im Osten ebenfalls gut abgeschnitten hat und die Linken endgültig ins Aus zu katapultieren droht. Frau Wagenknecht hat links und rechts nach extremer Positionen und damit Wählern gefischt, die sich jetzt unter der Flagge der Partei der selbstverliebten Frau in Designer-Garderobe versammeln können, weil auf die wenigstens nicht das Etikett „Nazi“ passt. Spätestens mit dem Boykott der Rede von Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj im Deutschen Bundestag hat sie allerdings deutlich gemacht, dass ihre Sympathie für den kriegslüsternen russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin ihre Liebe zu Freiheit, Demokratie und Völkerrecht in den Schatten stellt. Die AfD hat sich dem Boykott angeschlossen: Was beide Parteien eint, ist die Bewunderung für den Quasi-Diktator im Kreml. Seit am 9. August 1999 Boris Jelzin seinen Wunschkandidaten Putin zum Ministerpräsidenten ernannte, hat Putin immer mehr Macht in seinen Händen vereinigt. Am Ende geht es ihm wohl darum, an die Ära der Sowjetunion anzuknüpfen, unter seiner weisen Führung. Ob sich dann die AfD-Oberen und die BSW-Chefin willig anschließen?
In der 1930er-Jahren waren Deutsche schon einmal auf der Suche nach einer Autorität, die sie aus allen Krisen herausführt. Tatsächlich führte er sie und nebenbei die halbe Welt in eine viel tiefere hinein: Die Welt brannte, Millionen Menschen starben und unzählige Leben wurden zerstört. Wer das jetzt nicht mehr hören mag, dem sei zugerufen:
„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist verdammt, sie zu wiederholen.“
George Santayana
Aber man muss gar nicht die Parallelen zur Machtergreifung zitieren, wie einige AfD-Sympathisanten formulieren würden: die Nazikeule schwingen. Wer AfD & Co. wählt, spielt mit dem Feuer – für eine Denkzettelwahl ist das viel zu riskant. Frankreichs Präsident Emmanuel Makron glaubt offensichtlich fest daran, dass seine Landsleute die Europawahl genutzt haben, den etablierten Parteien einen solchen Denkzettel zu verpassen. Daraus spricht eine seltsame Geringschätzung der Wahl zum Europäischen Parlament, und das von einem erklärten Pro-Europa-Politiker: Glaubt er wirklich, dass die Franzosen, wenn „es ernst wird“, wenn es also um das französische Parlament geht, sich eines Besseren besinnen?
„Nichts wird so heiß gegessen, wie es serviert wird“, sagt der Volksmund. Der Blick nach Italien scheint ihm recht zu geben. Giorgia Meloni schlägt sich in Italien wacker und hat auch keine verbrannte Erde hinterlassen – bisher. Hinter den Kulissen aber handelt die Rechte nach einer versteckten Agenda: Der Einfluss auf die Staatsmedien wird ausgebaut, die Unabhängigkeit der Justiz wird infrage gestellt. Wenn dem nicht Einhalt geboten wird, könnten die Rechten in wenigen Jahren die Maske fallen lassen und das hässliche Gesicht des autoritär geprägten Nationalisten zeigen.
Das Schema ist immer ähnlich, ich skizziere es in groben Strichen: Der Wähler gibt angehende Diktatoren und Rechtspopulisten Macht und Einfluss, weil er wirklich an deren krude Ideen glaubt, oder auch nur den etablierten Parteien einen Denkzettel geben will. Die bauen ihren Einfluss auf die Medien aus: Die Staatsmedien machen den Anfang, dann werden andere Medien unglaubwürdig gemacht, bestochen, aufgekauft oder eingeschüchtert. Mit einer Presse im Rücken, die alle Aktionen bejubelt, kann man sich daran machen, die Unabhängigkeit der Justiz auszuhöhlen. Die höchsten Richter werden von parteipolitisch geprägten Ausschüssen bestimmt, das ist der offensichtlichste Einstiegspunkt. Gleichzeitig werden Polizei und Streitkräfte auf Linie gebracht. An den Schulen werden bald nur noch Inhalte gelehrt, die ins rechte Weltbild passen.
Ohne Rücksicht darauf, dass die Ergebnisse nachhaltig sind, lassen sich für einige Probleme sicher auch Lösungen finden, die ein entscheidungsschwache Kanzler an der Spitze einer wie die Kesselflicker streitenden so nicht präsentieren kann. Und vielleicht liefert Putin auch noch billiges Gas.
In einigen Jahren müssen wir und unsere Kinder und Enkel dann in einem Land leben, das weder demokratisch noch freiheitlich, noch tolerant und bald auch nicht mehr wohlhabend ist. Autoritäre Systeme funktionieren nicht ohne Vetternwirtschaft, ohne dass privilegierte Gruppen, die eine herrschende Partei, eine religiöse Gemeinschaft, eine Familie oder ein Diktator zur Stabilisierung ihrer Macht zwingend benötigen, den Rahm abschöpft. Das wiederum begünstigt die Korruption auf allen Ebenen. Die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller, das Land implodiert eines Tages, Gewalt herrscht auf den Straßen, oder die Nation zieht in den Krieg.
Noch ist es nicht mehr als ein Schreckgespenst. Und wenn es ihnen Angst macht, will ich genau das erreichen. Damit sie, lieber Leser und Wähler, nachdenken und abwägen.
Ach ja: Demokratien sind nicht handlungsunfähig und müssen nicht zuschauen, wie extreme Rechte oder Linke an ihrer Substanz knabbern. Im Artikel 21 des Grundgesetzes heißt es:
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.
(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
Art 21, GG
Auf der Seite des Bundesverfassungsgerichtes kann man weiter nachlesen:
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt alleine die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen hierfür nicht. Hinzukommen müssen eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung, auf deren Abschaffung die Partei abzielt, sowie konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheint.
Die AfD wird in ganz Deutschland als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat dies kürzlich bestätigt und eine Klage gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz abgewiesen. Neben der AfD auf Bundesebene wird die Organisation in sechs Bundesländern bereits als Verdachtsfall eingestuft. Nach einer Entscheidung des Landesverfassungsgerichts in Thüringen für den entsprechenden AfD-Jugendverband (JA) gelten zudem nun fünf Jugendorganisationen der AfD als gesichert rechtsextrem. Spätestens die Europawahl hat bewiesen, dass die AfD kein zu vernachlässigender Faktor mehr ist. Auch wenn die Karte suggeriert, dass sie ein ostdeutsches Problem darstellt, beweisen etwa 16 Prozent für die Rechten auf Bundesebene, dass das nicht so ist. Ich lebe im Kreis Herford. Es hat mich ehrlich erschüttert, dass auch hier ungefähr jeder Siebte AfD gewählt hat.
Ich kann verstehen, dass sich viele Politiker scheuen, in ein Verbotsverfahren einzutreten. Zumindest aber sollte der Rechtsstaat verhindern, dass er weiter seine eigene Abschaffung mitfinanziert.
Später ergänzt:
Dass ein Verbotsantrag darüber hinaus Aussicht auf Erfolg hat, ist zumindest zweifelhaft. Der letzte Teil der vom Bundesverfassungsgericht formulierten Voraussetzungen für einen Erfolg (ein Erreichen der von der AfD verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele darf nicht aussichtslos erscheinen), legt die Hürde noch einmal höher. Im Grunde müssten wir uns freuen, wenn die Justiz diese Frage verneint, dürften wir uns dann doch noch etwas sicherer fühlen. Ich habe großes Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Aber der schützt die Demokratie eben nicht davor, mit (anfangs) demokratischen Mitteln abgeschafft zu werden. Davor müssen wir – Bürger, Wähler, Demokraten – uns selbst, unsere Kinder und Enkelkinder schützen. An den Wahlurnen, in öffentlichen und privaten Foren und auch am Stammtisch. Wir müssen informiert bleiben und wachsam, unsere Werte vorleben und streitbar sein, wenn sie in Gefahr sind.